Ist Homöopathie undenkbar?
Das Herstellungsverfahren homöopathischer Arzneimittel, die Potenzierung der Urtinktur, hat zur Folge, dass der Wirkstoffgehalt mit zunehmender Potenzierung sukzessive abnimmt. Dies ist einer der Hauptkritikpunkte an der Homöopathie. Mit derart geringem oder gar ohne Wirkstoffgehalt sei eine biologische Wirkung nicht denkbar. Ist diese Behauptung unter Berücksichtigung der nachgewiesenen Wirksamkeit homöopathischer Medikamente und angesichts der wissenschaftlichen Entwicklung haltbar?
Homöopathische Arzneimittel werden in einem bestimmten Verfahren hergestellt, man spricht von homöopathischer „Potenzierung“ (aus dem lateinischen, „Potentia“ – die Kraft). Die Ausgangssubstanz (Urtinktur) wird dabei chemisch-physikalisch betrachtet in einem definierten Mischungsverhältnis verdünnt und anschließend durch einen Schüttelprozess mit dem Lösungsmittel vermischt. Mit zunehmender Potenzierung sinkt die Konzentration des Ausgangsstoffes. Aufgrund der atomaren bzw. molekularen Struktur der Materie sind Stoffe jedoch nicht unendlich teilbar. Dies hat zur Folge, dass etwa ab der Potenzstufe D23 (C12) die Wahrscheinlichkeit gegen null geht, dass in der potenzierten Lösung noch Spuren des Wirkstoffes enthalten sind (Herstellung).
Mystischer Irrglaube?
Insbesondere dieser Umstand führt häufig zur Ablehnung der Homöopathie. Sie könne prinzipiell nicht wirksam sein, heißt es von Seiten der Kritiker, denn „wo nichts drin ist, kann auch nichts wirken“. Die scheinbar unmittelbare Verständlichkeit dieser Argumentation hat zur Folge, dass beim Thema Homöopathie jeder von vornherein glaubt, Bescheid zu wissen. Homöopathische, zumindest medizinische Fachkenntnisse oder eine vertiefende Recherche (z.B. tatsächliche Studienergebnisse) scheinen sich demnach zu erübrigen. Die positive Erfahrung von Patienten und Therapeuten wird ausschließlich als Placebowirkung abgetan. Qualitativ hochwertige Studiendaten, die die Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel belegen, werden ignoriert. Allen, die mit der Homöopathie sympathisieren, wird unterstellt, sie seien einem mystischen, übernatürlichen Irrglauben verfallen.
Alles Placebo?
Man könnte dem Gedanken zuneigen, Heilerfolge der Homöopathie beruhten nicht auf der Wirksamkeit ihrer Arzneimittel, sondern seien durch Kontexteffekte, wie Zuwendung und lange Anamnesegespräche, begründet (Placeboeffekte im erweiterten Sinne). Diese Sicht ist jedoch nicht haltbar, denn sie ignoriert die positiven Ergebnisse vorliegender Homöopathiestudien. Es ist gerade der Sinn und Zweck von Doppelblindstudien, mögliche Kontexteffekte von der Wirkung durch Arzneimittel zu unterscheiden (Kontrollierte Studien).
Im Übrigen: Wäre es, entgegen der Studienlage, tatsächlich so, dass sich die Wirksamkeit der Homöopathie ausschließlich durch ihre Kontexteffekte erklären ließe, wäre auch das ein starkes Argument pro Homöopathie. Besserung oder gar Heilung durch Placeboeffekte sind keine Heilung „zweiter Klasse“. Etliche Studien zeigen, dass die Wirkung durch ein Placebo oft größer ist als die durch konventionelle Medikamente (1, 2, 3, 4). Was spräche also grundsätzlich dagegen, einen Placeboeffekt zu optimieren? Aus Patientensicht sind diese theoretischen Erwägungen ohnehin „akademischer Natur“. Kranke Menschen sind daran interessiert, dass eine Behandlung hilft, möglichst ohne gravierende Nebenwirkungen. Ob die Besserung durch das Arzneimittel oder den Kontext hervorgerufen wird, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Schwer vorstellbar, dass ein Patient sagt: „Lieber bleibe ich krank, als dass ich durch ein Placebo geheilt werde“.
Semmelweis – Reflex?
Die Ansicht, trotz nachgewiesener Wirksamkeit in Studien, habe die Homöopathie wegen des unbekannten Wirkmechanismus in einer wissenschaftlich orientierten Medizin nichts zu suchen (5), weitere Forschung sei daher zu unterlassen, ist wissenschaftsfeindlich. Wenn wir tatsächlich ausschließlich das beforschen, was mit den bisherigen Erkenntnissen übereinzustimmen scheint, wäre ein echter Fortschritt nicht möglich.
Die Geschichte der Wissenschaften, auch die der Medizin, hat immer wieder gezeigt, dass neue Erkenntnisse oder Methoden, wenn Sie mit dem aktuell verfügbaren Wissen nicht zu erklären sind, mitunter zunächst mit einer ungerechtfertigten Überheblichkeit verspottet und abgelehnt wurden. Exemplarisch sei hier auf die Bemühungen von Ignaz Semmelweis hingewiesen, mit simplen Desinfektionsmaßnahmen die hohe Müttersterblichkeit am Kindbettfieber zu senken. Semmelweis konnte empirische Beweise für seine Theorie vorlegen, dass Studenten, die zuvor Leichen seziert hatten, ein unbekanntes „Etwas“ auf anschließend untersuchte Frauen nach der Entbindung übertrugen. Die Existenz von Krankheitserregern war zu dieser Zeit noch unbekannt. Es gab also keine plausible Erklärung für die von Semmelweis vorgeschlagene Maßnahme der Händedesinfektion. Infolgedessen wurde seine Theorie für unwissenschaftlich erklärt, Desinfektionsmaßnahmen wurden als Zeitverschwendung abgelehnt und Semmelweis scharf kritisiert (6). Heute sind Hygienemaßnahmen durch Desinfektion in der Medizin eine Selbstverständlichkeit. Als „Semmelweis-Reflex“ wird eine Haltung bezeichnet, neue Erkenntnisse, auch wenn sie empirisch gut begründet sind, reflexhaft und ohne ausreichende Überprüfung abzulehnen, nur weil sie gängigen Überzeugungen oder (Therapie-) Moden widersprechen.
Plausibilität oder Wirksamkeit?
Bei der Kritik an der Homöopathie werden offensichtlich Prämissen der wissenschaftlich orientierten Medizin missachtet. Die moderne Evidenzbasierte Medizin (EbM) fordert, dass sich die Beurteilung eines Medikaments auf empirische Beweise für ihre Wirksamkeit stützen muss – nicht auf Theorien oder Expertenmeinung. Plausibilität ist zwar wünschenswert, aber nicht das entscheidende Kriterium für die Beurteilung eines Medikaments. In der EbM ist es letztlich unerheblich, ob ein Wirkmechanismus bekannt ist, nach dem aktuellen Stand unseres Wissens plausibel erscheint oder nicht (7, 8).
Viel zu oft wurden auch in der jüngeren Medizingeschichte Medikamente vor allem deswegen eingesetzt, weil deren Wirkprinzip einleuchtend und plausibel erschien. Bis Wirksamkeitsstudien mit relevanten Endpunkten ans Licht brachten, dass sie unnütz sind oder dass sogar (bei einigen Beispielen viele tausend) Menschen daran starben. Bei der Beurteilung von Medikamenten vor allem die Plausibilität zu beachten, führte zu falschen Schlussfolgerungen (9, 10).
Entgegen den Prämissen der EbM ist es offensichtlich jedoch gerade das fehlende Wissen über den Wirkmechanismus, der zur Ablehnung der Homöopathie führt. Kleijnen, ein holländischer Epidemiologe, der die erste Zusammenfassung von Homöopathiestudien anfertigte, hat den Widerspruch treffend zusammengefasst: „Sind die Ergebnisse von randomisierten Doppelblindstudien nur dann überzeugend, wenn wir einen plausiblen Wirkmechanismus kennen?“ (Übersetzung vom Autor) (11).
Wirkung ohne Wirkstoff?
Unstrittig ist, dass wir bis dato nicht wissen, wie homöopathische Arzneimittel wirken. Doch ist ihre Wirksamkeit aufgrund der vorgetragenen Kritik, „wo nichts drin ist, kann auch nichts wirken“ tatsächlich von vornherein undenkbar? Können biologische Prozesse ausschließlich durch materielle Substanzen, ausschließlich durch Wirkstoffe angestoßen werden?
Bereits triviale Alltagserfahrungen zeigen uns, ebenso wie die Psychosomatik, dass auch nicht-materielle Impulse einen großen Einfluss auf unseren Organismus haben können. Worte (ohne materielle Grundlage, ohne Wirkstoffgehalt) können verletzen und im Endeffekt auch zu Krankheiten mit organischen Veränderungen führen. Umgekehrt können tröstende Worte sehr heilsam sein. Warum sollten sich Therapeuten Zeit für ihre Patienten nehmen, eine tragfähige Beziehung zu ihnen aufbauen, wenn es nur und ausschließlich materielle Interventionen sind, die zur Heilung führen? Mit dieser Haltung müssten wir alle psychotherapeutischen Maßnahmen aus dem Gesundheitssystem eliminieren. Ihre Interventionen sind nicht-materiell und dennoch nachweislich wirksam (12-15).
Auch die Beeinflussung der Erwartungshaltung eines Menschen ist in der Lage, komplexe physiologische Reaktionen auszulösen – ohne jeglichen Einfluss eines Wirkstoffes. Bei unterschiedlichen Erkrankungen, wie schweren Depressionen, Migräne, chronischen Schmerzzuständen, Erschöpfung bei Krebspatienten oder auch hinsichtlich der Komplikationsrate nach Herzoperationen, konnten durch Veränderung der Erwartungshaltung zum Teil hochwirksame therapeutische Effekte nachgewiesen werden (1-4).
Wissenschaft im Wandel
Der Physik-Nobelpreis wurde 2022 drei Wissenschaftlern verliehen, die eine sog. Verschränkung von Teilchen (z.B. Lichtteilchen) nachweisen konnten. Zwei verschränkte Elementarteilchen verhalten sich so, als stünden sie ohne jeden Zeitverzug in Verbindung miteinander. Und das, unabhängig von der Entfernung, die sie trennt. Anton Zeilinger aus Wien, einer der drei Nobelpreisträger, gelang mit seiner Arbeitsgruppe der Nachweis der Quantenteleportation. Demnach kann ein Teilchen seinen (Quanten-) Zustand auch räumlich unabhängig auf ein anderes übertragen. Der zugrundeliegende Mechanismus ist völlig unbekannt – es wird dabei weder Materie noch Energie übertragen.
Einstein begegnete der Verschränkung zweier Elementarteilchen skeptisch, er sprach etwas spöttisch von einer „spukhaften Fernwirkung“. Sie ist mit mehreren Prämissen der Physik unvereinbar. Bislang gilt z.B. die Lichtgeschwindigkeit als maximale Geschwindigkeitsgrenze für Materie und Energie. Es gibt keine Erklärung, wie verschränkte Teilchen ohne jegliche Zeitverzögerung gleichsinnige Wirkungen realisieren können, unabhängig ihrer Entfernung zueinander – und das offensichtlich vielfach rascher als die Lichtgeschwindigkeit. Auf die Frage, was angesichts der Forschungsergebnisse denn nun die Wirklichkeit sei, antwortet Zeilinger: „Denn es stellt sich zunehmend heraus, dass unsere Wirklichkeitskonzepte fundamental verkehrt sind“ (16-20).
Der Nobelpreis für Physik aus dem Jahr 2022 führt zu Schlussfolgerungen, die durchaus Konsequenzen für den Blick auf die Homöopathie haben:
- Es gilt als bewiesen, dass Effekte auch nicht-materiell, also ohne ursächlichen Einfluss von Materie oder Energie, ausgelöst werden können.
- Es existieren physikalische Phänomene, die unsere Alltagserfahrung auf den Kopf stellen.
- Es ist eine Tatsache (und wird nicht etwa nur von Homöopathen als „Schutzbehauptung“ angeführt), dass wissenschaftliche Erkenntnisse im Wandel begriffen sind. Das, was heute noch als wissenschaftlich undenkbar ausgeschlossen wird („wo nichts drin ist, kann auch nichts wirken“), kann morgen eine bewiesene Erkenntnis sein.
Dies macht die Vergabe des Nobelpreises für Physik von 2022 eindrucksvoll deutlich.
Die oben skizzierten Effekte sind im Übrigen weder eine Erklärung für die Wirkweise der Homöopathie noch eine wissenschaftliche Theorie. Die Beispiele zeigen jedoch, dass biologische Prozesse auch ohne Wirkstoff sehr effektiv angestoßen werden können. Eine Wirkung hoch potenzierter Arzneimittel ist also auch nicht-materiell prinzipiell denkbar – auch wenn wir den Mechanismus noch nicht kennen.
Fazit:
Die Gesetzmäßigkeiten konventioneller Medikamente müssen nicht zwangsläufig auf potenzierte Wirkstoffe anwendbar sein. Anders als bei konventionellen Pharmaka können nicht-stofflich ausgelöste Heilimpulse sehr wirksam sein, das illustrieren o.g. Beispiele. Die Ansicht, wegen mangelnder Plausibilität sei eine Wirksamkeit hoch potenzierter Arzneimittel von vornherein ausgeschlossen, ignoriert die 200-jährige Erfahrung von Patienten und Therapeuten sowie Studiendaten zugunsten der Homöopathie.
Wenn wir auch das „Wie“ nicht kennen, so wissen wir doch, dass hoch potenzierte Arzneimittel auch ohne Wirkstoff wirksam sind. Die Zusammenfassung aller wissenschaftlichen Nachweise, die sich aus kontrollierten Studien (RCTs), ihren Zusammenfassungen (Metaanalysen) und länger währenden Beobachtungsstudien ergibt, spricht deutlich für die Wirksamkeit und den Nutzen der Homöopathie (Studien). Ebenso bestätigen die Daten aus der experimentellen Grundlagenforschung, dass hoch potenzierte Zubereitungen eindeutig anders wirken als ihre Placebokontrollen (Grundlagenforschung).
Unsere Quellen
1. Rief, W.: Just in mind? Wie Erwartungen und Erfahrungen den Behandlungserfolg beeinflussen können. KVH aktuell 2|2017, 29-31.
2. Zech et al: Noceboeffekte und Negativsuggestionen in der Anästhesie. Anaesthesist 2014, 63:816-824
3. Jütte, R.: Selbst eingebildete Pillen können wirken. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 31–32, 5. August 2019
4. Kaptchuk et al: Placebo Effects in Medicine. N engl j med 373;1 nejm.org july 2, 2015
5. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lauterbach-homoeopathie-kassenleistung-100.html
6. https://de.wikipedia.org/wiki/Ignaz_Semmelweis
7. Eichler, M. et al: Evidenzbasierte Medizin – Möglichkeiten und Grenzen. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 51–52, 21. Dezember 2015
8. Raspe, H.: Evidence based medicine: Modischer Unsinn, alter Wein in neuen Schläuchen oder aktuelle Notwendigkeit? Z ärztl Fortbild (ZaeF), Gustav Fischer Verlag Jena,1996; 90: 553–562
9. Antes, G., (Herausgeber): Wo ist der Beweis? Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin. Huber-Verlag, 2013
10. Mühlhauser, I., Berger, M.: Surrogat-Marker: Trugschlüsse. Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 49, 6. Dezember 1996
11. Kleijnen, J et al: Clinical trials of homoeopathy. BMJ. 1991 Feb 9;302(6772):316- 23.
12. Driessen et al: The efficacy of short-term psychodynamic psychotherapy for depression: a meta-analysis. Psychol Rev. 2010 Feb;30(1):25-36
13. Del Re et al: Examining therapist effects in the alliance-outcome relationship: A multilevel meta-analysis. J Consult Clin Psychol. 2021 May;89(5):371-378
14. Flückinger et al: The alliance in adult psychotherapy: A meta-analytic synthesis. Psychotherapy (Chic). 2018 Dec;55(4):316-340.
15. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Systemische Therapie bei Erwachsenen als Psychotherapieverfahren. 05.2017, Abschlussbericht N14-02
16. www.deutschlandfunk.de/physik-nobelpreis-2022-quantenmechanik-aspect- clauser-zeilinger-100.html
17. www.profil.at/wissenschaft/anton-zeilinger-wir-galten-als-totale- aussenseiter/402174609
18. www.derstandard.de/story/2000139790280/nobelpreistraeger-anton-zeilinger- pfeif-drauf-was-andere-sagen
19. www.spektrum.de/news/physik-nobelpreis-2022-geht-an-drei-physiker-mit- fernwirkung/2063448
20. www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/mysterioeses-quantenphaenomen- einsteins-spuk-ist-tausende-male-schneller-als-das-licht-a-572068.html